Noch lebhaft ist mir mein erster Urlaub als Kind in Italien in Erinnerung. Mit nackten Füßen kam ich ins Hotelzimmer, wo wegen der Sonne die Rollläden heruntergelassen und die Vorhänge zugezogen waren. Und ich trat im Halbdunkeln auf etwas, das knackte. Arglos bückte ich mich und nahm das Ding, auf das ich getreten war, in meine Hand, hielt es dich vor meine Augen und besah es. Da zappelte es, weshalb ich den Gegenstand mit einem Aufschrei fallen ließ. Mein Bruder kam angerannt und sagte: „Du hast eine Heuschrecke zertreten“. Ich kann eine Heuschrecke nicht von einem Grashüpfer unterscheiden, aber wenn er das sagte, wird es wohl eine gewesen sein.
Jahre später wollte ich mit meinem Mann wieder mal Ferien im schönen Italien machen, wo es von allen Stellen des Stiefels ganz nah bis zum Meer ist. Vor der Abreise ging ich zur blauen Stunde ins Badezimmer, das von oben bis unten blau gekachelt war und durch dessen Deckenfenster ein diffuses Licht fiel. Zufällig sah ich auf meine Hand und entdeckte dort auf dem linken Zeigefinger etwas, das, so paradox es klingt, in seiner Beschaffenheit im Grunde genommen unsichtbar war. Mir fällt kein anderes Wort als unsichtbar ein, total durchscheinend, wenn ich es erklären müsste.
Sah ich genau hin, saß da eine durchsichtige Heuschrecke auf meinem Finger, blinzelte ich auch nur etwas, war sie weg. In mir war kein Schaudern, kein Schauer lief mir über den Rücken, ich gruselte mich nicht, empfand kein Grauen, ich hielt nur den Atem an und staunte. „Faszinierend“ würde Mr. Spock sagen. „Bist du fertig, wir müssen los, das Taxi wartet“, hörte ich meinen Mann rufen. Damals gab es keine Memory Sticks für die Kamera, nur Filme. Ich griff eine Filmdose und streifte das Heuschreckengespenst von meinem Finger in die leere Filmdose, verschloss sie und zog dann los.
Natürlich war bei meiner Rückkehr die Filmdose absolut leer, keine Spur von der eigentlich unsichtbaren Heuschrecke, von der ich überzeugt war, dass nur ich sie hätte sehen können. Seither aber befällt mich manchmal die Vorstellung, dass alles, was wir getötet haben, unsichtbar an uns kleben bleibt. Ich stelle mir Teile von toten Tieren auf meinem Rücken vor, zwei Mäuse sitzen auf meiner Schulter, unzählige Fliegen, die ich mit der Fliegenklatsche oder einer Zeitung erwischte, sitzen irgendwo auf meinen Armen. Alles ist durchsichtig, aber präsent und wartet, bis der Tag kommt, an dem ich Verantwortung für ihr Ableben übernehme. Meine unsichtbare Heuschrecke wollte mir die Augen öffnen, Leben mit Respekt zu behandeln.



Kommentare zu "Die unsichtbare Heuchrecke"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.